Ferdinand Rohrhirsch

Dr. theol. habil., außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Gestorben 2018

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Grußwort am 15. 7. 2016

„Umstieg“ bedeutet nicht auszusteigen, sondern auf dem Weg zu bleiben, um das ursprüngliche Ziel zu erreichen. Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch – Esslingen am Neckar
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Langandauernde Entwicklungen, die einen schließlich doch aus der Bahn werfen, weil sie das eigene Selbstverständnis nicht nur in Frage stellen, sondern erschüttern, werden in der Rückschau oft mit einem Ereignis identifiziert, das, obgleich historisch nicht exakt, dennoch eine markante Signatur zur Verfügung stellt, sich selbst und anderen klarzumachen, warum man so geworden ist, wie man nun ist. Wieso man eine bestimmte Sicht der Dinge favorisiert und sich öffentlich zu ihr bekennt. Und überdies den Grund bilden, warum ich die heute präsentierten Verbesserungen zu S21, die unter der Chiffre „Umstieg“ vorgestellt werden, nicht nur für wünschenswert, sondern für geradewegs unverzichtbar halte. Zu besagter Signatur wurde für mich die Lektüre eines Interviews, in dem der Verkehrswissenschaftler Ullrich Martin die aus seiner Sicht unzureichende Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Kopfbahnhofes unter anderem mit folgendem Argument begründet: „Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinanderliegenden Sackgassen ... Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten.“ www.region-stuttgart.org/vrsuploads/Interview_Martin.pdf.
Der Originallink existiert nicht mehr – Das Interview findet sich als Kopie unter: www.siegfried-busch.de/page23/page55/files/unbekannt.pdf Ich empfand diesen Satz in mehrfacher Weise als ungeheuerlich. Und noch immer schaue ich nach – wenn ich ihn anführe –, ob ich mich nicht doch vielleicht verlesen habe. Aber er steht doch immer so da. Dass dieser Satz eine derartige Fassungslosigkeit auslöste, hat mit zwei Eigenheiten meiner Biographie zu tun. Die eine ist die: Ich war einmal bei der Deutschen Bundesbahn. Ich habe nach meinem mittleren Schulabschluss bei der Bahn gelernt, in Kornwestheim meine Laufbahnprüfung abgelegt und war dann eine Zeit lang bei der DB am Ulmer Hauptbahnhof beschäftigt. Ich habe Reisezugauskünfte gegeben, Züge abfahren lassen und hie und da Weichen gestellt. Mittlerweile bin ich seit langer Zeit freiberuflich tätig und häufig im Rahmen meiner Coachingtätigkeit im süddeutschen Raum unterwegs. Von 1993 bis 2015 war ich lückenloser BahnCard50-Besitzer. Da ich in Esslingen wohne, bildete der Stuttgarter Hauptbahnhof das berufliche Umsteigetor zur Welt wie auch die Pforte zur Heimat bei der Rückfahrt.
Die zweite Eigenheit besteht darin, dass ich durch Personalüberbestand wie durch einen Mangel an Dienstposten mich entschieden hatte, schon bald wieder von der Bahn zu gehen. Im Anschluss an meine Bundesbahnzeit habe ich über den zweiten Bildungsweg Theologie und Philosophie studiert und habe mich innerhalb dieser Studiengänge lange genug mit Wissenschaftsphilosophie beschäftigt, um die Geltungsansprüche von wissenschaftlichen Aussagen einschätzen zu können, wie auch um den Einfluss von Prämissen, das heißt Annahmen, die zumeist nie thematisiert werden, aber das zu erwartende Ergebnis grundlegend beeinflussen, zu wissen. Ich habe erkannt, dass die Objektivität wissenschaftlicher Ergebnisse vom Ethos der Wissenschaftler abhängt. Ohne Ethik keine Wissenschaft.
Vielleicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, kennen Sie das auch: Es gibt Menschen, die können überall mitreden. Sie kennen sich in allen Bereichen menschlicher Existenz hervorragend aus – so glauben sie. Ich glaube das von mir nicht. Es gibt nur weniges, von dem ich meine, ich hätte einen gewissen Durchblick bzw. einen gewissen Sachverstand. Zu diesen wenigen Dingen gehören die Kenntnis der Prinzipien des Eisenbahnbetriebes und die Entstehungsbedingungen, Reichweite und Grenzen wissenschaftlicher Aussagen. Diese beiden, zusammengenommen, bilden den Grund dafür, dass ich mich in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 zum ersten Mal in meinem Leben gesellschaftspolitisch engagiert habe, auf die Straße gegangen bin und gelegentlich zum Demo-Redner geworden bin.
Ich bin zu einem prinzipiellen S21-Befürworter geworden. Meine Damen und Herren, Sie haben sich nicht verhört. Ich halte es für uneingeschränkt erforderlich, der Stadt Stuttgart, der Region wie dem Land mehr und bessere Schienenverkehrskapazität zur Verfügung zu stellen. Dafür dürfen auch stattliche Summen eingesetzt werden. Weil, ganz dem prinzipiellen Anliegen der S21-Befürworter folgend, bedeutete das in der Konsequenz, zum entschiedenen Gegner des geplanten Stuttgarter Durchgangsbahnhofes zu werden.
Es ging und geht nicht darum, gegen etwas zu sein, sondern, unterstützt mit dem Blick der Vernunft auf die Sache, darauf hinzuweisen, dass der Einsatz der Mittel, das heißt die Höhe der Investitionen nicht per se ein Gütekriterium sind für die Dinge, die da gebaut werden sollen. Ich bin der Meinung, dass dem Schienenverkehr – nicht nur hier in Stuttgart – eine breite, großzügige Straße in die Zukunft gebaut werden muss. Doch immer mehr zeigt sich – und es gelingt nur noch mit allergrößtem Aufwand, davor die Augen zu verschließen –, dass der projektierte Durchgangsbahnhof nicht dafür tauglich ist, dieser Zukunft auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Deshalb bin ich, wie die Initiatoren dieser Veranstaltung, gerade nicht für einen Stillstand, für einen Rückbau oder einen Ausstieg, sondern für einen Umstieg. Umsteigen bedeutet ja nie, eine begonnene Reise abzubrechen oder zurückzufahren, Umsteigen heißt: auf dem Weg zu bleiben, um, trotz verbohrter Wege, dennoch das ursprünglich anvisierte Ziel zu erreichen.
Es ist nicht nur eine charmante Idee, die Ebene unter den Kopfbahnhofgleisen als einen Busbahnhof zu nutzen, der seinesgleichen sucht, und der dem Grundsatz „Verkehr zu Verkehr“ folgt. Mit dem Zug zum Bus. Mit dem Bus zum Zug. Auch die heute vorgestellte Verlängerung der S-Bahn im Süden des Flughafens ist überfällig und und ...
Und da bin ich bei den nun folgenden Vorschlägen, die allesamt zeigen, dass noch manches möglich ist, die Tore bei diesem Bauprojekt noch offen sind für Gleise, Räume und Bauten, die ins Weite und Sinnvolle führen. Wer weiß, vielleicht bildet diese Veranstaltung, besehen aus einer gar nicht so fernen Zukunft, die Signatur, an der sich Aufbruch, Optimismus und Mut zu einer neuen Eisenbahnzeit gezeigt und zum Ausdruck gebracht haben. Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch, office@ferdinand-rohrhirsch.de http://www.ferdinand-rohrhirsch.de
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Rede am 14. Dez. 2015 bei der 302. Montagsdemo, Schlossplatz (Neues Schloss) 18:00 Uhr.

Vertrauensmissbrauch - führt zum Verlust der Glaubwürdigkeit
und endet beim Entzug der Solidarität


Lieber Siegfried Busch,

ich bin ein treuer Besucher Ihrer Internetseite „metropolis21.de“, in der Sie sich kritisch mit dem Projekt Stuttgart21 auseinandersetzen.
Sie hatten mich vor einiger Zeit gefragt, ob sich in meiner Haltung zu Stuttgart21 und zur Bahn AG etwas verändert hat, ob ich mich womöglich mit dem umstrittenen Bahnhofs­projekt abgefunden oder gar ausgesöhnt habe.

Jedes Mal, lieber Herr Busch, wenn ich über Ihre Frage nachdenke, dann steigen in mir, neben Wut und Fassungs­losig­­keit, viele gute Argumente
gegen Stuttgart21 auf, und ich frage mich – und das ist dann auch meine Antwort auf Ihre Frage.


Wie sollte es denn überhaupt möglich sein,
nicht gegen dieses Irrsinnsprojekt zu sein?


Stuttgart21, dieser von Politik und Bahn AG gewünschte „Primark“ der Mobilität, und was ist das anderes, als eine riesige Tasche mit viel heißer Luft und etwas Krempel drin. Aber immerhin – alles stylisch verpackt.
Wie könnte ich dieses Bahnhofsprojekt gut finden, das alle finanziellen Maßstäbe sprengt und zugleich weniger Leistung bietet, als der vorhandene Bahnhof?


In hohem Maße, rational wie emotional, bin mit der Eisenbahn verbunden. Mein Großvater, mein Vater, ich – wenn auch nur für kurze Zeit, wir alle waren bei der Bahn.
Doch ganz unabhängig davon halte ich die Eisenbahn für ein hervorragendes, gesell­schaftliches äußerst nutzbringendes Mobilitätsinstrument, das besonders den Metropolregionen das verkehrliche Überleben sichern könnte – wenn man das Potential der Eisenbahn nutzen würde.

Nur, so meine Meinung, ist spätestens seit Mehdorn-Zeiten das Gegenteil beobachtbar. Eine geradezu manische Tendenz zur Selbstverstümmelung der Bahn ist feststellbar, die in der gegenwärtigen Mutation zu einer Grube-Kefer-Pofalla-Bahn, einem weiteren, bedauerlichen Höhepunkt zustrebt.

Fahrwege werden kanibalisiert, Flankenschutzweichen heraus­gerissen, Überholgleise abgebaut (u. a. Obertürkheim, Uhingen, Geislingen), systemrelevantes Personal reduziert. Und das alles, um einer finanziellen Optimierung willen.
Doch, was soll man auch erwarten, wenn McKinsey und Co. dem Bahnmanagement sagen dürfen, wie Bahn bzw. Bahnbetrieb zu funktionieren hat und zu strukturieren ist.

Hier zeigt sich ein Grunddilemma der Unternehmen, die von Managern geführt werden, die frei sind vom Verstehen und Wissen der Sache, der sie vorstehen. Sie vertrauen nicht den Leuten, die sich vor Ort schon lange um die Sache kümmern und diese kennen. Sie glauben eher denen, die in Anzügen auftreten, geschliffen auf Denglisch schwadronieren und chartoptimiert formu­lieren.

Nicht nur dann, aber dann besonders, wenn man gesund­heitlich angeschlagen ist, merkt man erst, wie sehr die Züge verlottern, vergammeln, heruntergewirtschaftet werden, und wie hochtourig mittlerweile das Karussell der Triebfahrzeug-, Weichen- und Signalstörungen seine Runden dreht.

Doch in Werbeblättchen der Bahn, die in den Zügen ausliegen, wird stattdessen alles immer besser.
Da gab und gibt es so viel zu vermelden. Großspurige und großformatige Ankündigungen sind zu entdecken, was demnächst alles auf die Reisenden zukommt.
Eine Service-, Leistungs- und Pünktlichkeitsoffensive jagt die andere. Und als Fahrgast weiß man längst: wenn man viel Glück hat, bleibt es wenigstens danach so, wie es vorher war.

Herr Grube, die Ankündigungen der Bahn AG erinnern mich zunehmend an die Prospekte der Möbelhäuser der Region, die in Großbuchstaben allen 15, 20 oder 40 % Megarabatt versprechen, und dann, mit einem winzig kleinen Sternchen darauf hinweisen, dass das für einige Marken
nicht gilt. Und wenn man genau schaut, sind das so viele, dass man sich fragt, für welche Marken gilt dann eigentlich noch der Rabatt?

Großspurige Versprechen werden abgegeben, doch der reale Betrieb wird immer desaströser.
Und er wäre noch viel schlechter, wenn nicht mit vollem Einsatz die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner vor Ort, die Lokführer, die Zugbeleiter, der Fahrdienst, die Service-Teams an den Schaltern, das Rangier- und Reinigungspersonal, diese alle, das Letzte aus einer ramponierten Infrastruktur heraus­holen würden.

Wer dauernd ankündigt, dessen Glaubwürdigkeit ist bald erschöpft. Und mit Ihrem Technikvorstand, Herrn Kefer, haben sie in dieser Hinsicht einen perfekten Adlatus an ihrer Seite. Ein Diplom-Ingenieur, der die Sprache eines Juristen nutzt, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit zu informieren, und zwar so, dass der Unterschied zwischen Information und Desinformation nicht mehr erkennbar ist.
Es ist immer alles genau berechnet, bis zum Erweis des Gegenteils. Die Sache kostet genau so-und-so-viel. Doch dann kommen, man weiß nicht wie, und meist nach Wahlen, damals eben noch nicht bezifferbare Aufschläge hinzu.
Die Bodenplatte ist freigegeben. (So stets auf der Folie auf S. 26, 20151104-Lenkungskreis_Sitzung_14.pdf) und dann doch wieder nicht ganz. Und so geht das weiter …

Als ich vor einiger Zeit in Hamburg war, wurde mir wieder klar, was da in Stuttgart auf die Reisenden zukommen wird.
Am Fahrstuhl zum tiefergelegenen Bahnsteig befand sich eine Menschenschlange von ca. 15 Meter Länge, darunter Menschen mit Gehilfen, mit Rollatoren, mit Kinderwagen. Und auf einer Bahnsteigseite war die Rolltreppe defekt.
So trafen sich auf der Treppe diejenigen, die hinauf wollten mit denjenigen, die hinab wollten: unter ihnen ältere Menschen, Urlauber mit großen Koffern, eine Kindergruppe, viele Pendler. Das ist nicht wirklich lustig.

Doch Hamburg ist ja noch harmlos. Denn in Stuttgart kommt eine Gleisneigung hinzu, die nur als kriminell bezeichnet werden kann.
Herr Grube, diese Gleis­neigung könnte dafür verantwortlich werden, dass sie ein Leben lang mit dem hier zu bauenden Bahnhof in Verbindung gebracht werden. Denn hier führen Sie die Physik der Eisenbahn nicht an ihr Limit, sondern darüber hinaus. Für die Bahn AG gelten womöglich nicht alle Gesetze, aber meines Wissens sind die Konstanten der Physik immun gegen Lobbyarbeit.
Vielleicht, Herr Grube, haben Sie das noch nicht richtig verstanden, aber die Neigung der Stuttgarter Bahnsteige wird derart sein, dass sie bei einem Standard ICE der Baureihe 401 mit 410 m Länge von einem Triebkopf zum anderen gehend, einen Höhenunterschied überwinden, der Sie auf das 5m Brett ihres Freibades führt. Und dort angekommen sehen sie nicht den Zug unter sich, sondern sie befinden sich ein wenig über der Schienenoberkante, auf der besagter Zug steht.

Ich weiß, dass ich als Steuerzahler für diesen von Politik und Bahn AG zu verantwortenden Irrsinn zur Kasse gebeten werde. Aber mit meinen freiwilligen Leistungen bin ich nicht mehr bereit, diese, Herr Grube, von Ihnen zumindest gebilligte Pervertierung der Idee von Eisenbahn zu unter­stützen.
Ich sehe – im Moment – keine andere Möglichkeit, als Ihnen bzw. der Bahn AG mein Fernverkehrsmandat zu entziehen.
Seit Oktober 1992 war ich – lückenlos – bis zum Januar 2015, BahnCard50 Besitzer. Das sind dann weit über 20 Jahre. Seit 22. Januar 2015 bin ich Bahn-Card frei. Ich will nicht mehr.
Kein Fernverkehr mit dieser Bahn AG.
Ich bitte die echten Eisenbahner um Verständnis, aber ich will nicht mehr die Repräsentanten einer Bahn unterstützen, die den Ruf der Eisenbahn mit Kenntnislosigkeit, Blendrhethorik und Tatsachenverdrehung beeinträchtigen.
Ich will nichts mehr zu tun haben mit Leuten, die die Bahn kaputtsanieren und gleichzeitig Milliarden in unsinnige Projekte investieren, und die dann, und man fasst es nicht, die Qualität bzw. Attraktivität des Bahnbetriebes über eine WLAN-Erreichbarkeit, bzw. Abdeckung definieren.

Liebe Eisenbahner, lieber Herr Busch, liebe Obenbleiber,
dieser Bahn AG kündige ich.
Die Eisenbahn muss endlich fair behandelt und nicht misshandelt werden. Dass diese Chance nach wie vor, gegeben ist, das ist Ihnen, liebe Obenbleiber und ihrem Protest zu verdanken. Dafür danke ich Ihnen.
Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch
Esslingen am Neckar, www.ferdinand-rohrhirsch.de




Rede am 30. 06. 2014 Montags-Demo in Stuttgart (Marktplatz, 18:00 Uhr).

Die Einladung zur Besinnung
ist kein Aufruf zum Schweigen


Liebe Passantinnen und Passanten! Liebe Vorübergehende und Eilige, die ihr heute keine Zeit habt, keine Zeit, um mit uns an der hier stattfindenden Besinnung teilzu­nehmen.
Vermutlich seit ihr an Prioritäten gebunden und durch Termine gehindert, um mit uns, dem Thema nachzudenken, das uns immer wieder hier versammelt und zusammenbringt.
Wir verweilen und ihr eilt – so ist es durchaus möglich, dass wir im Wege stehen und ein wenig bei Euch anecken.

Wenn dem so wäre, dann bitte ich um Nachsicht. Aber um Entschuldigung bitten kann ich nicht. Weder ich, noch die hier Versammelten – da bin ich mir sicher – sehen den Sinn der montäglichen Veranstaltung darin, Euch, liebe Mitbürger vorsätzlich Nachteile aufzuhalsen oder Euch, ihr Bürger dieser Stadt, mutwillig und willkürlich in eurer Lebensqualität zu beeinträchtigen.

Denn auch wir hätten anderes zu tun. Auch wir wollen unsere Lebenszeit für andere Zwecke nutzen, möchten schon lange zurück­gestellte Pläne und Vorhaben angehen, statt hier Woche für Woche zu stehen und zu demonstrieren.

Doch wir stehen hier, weil wir irgendwann bemerkt haben, aus unterschiedlichsten beruflichen und privaten Zugängen heraus, – mitten in unserem Alltag –, dass da etwas mit uns geschehen soll, mit uns gemacht werden soll, wir, als Mittel zu einem Zweck gebraucht und benutzt werden sollen.

Jeder von uns hat es auf andere Weise bemerkt. Wir sind ein wenig langsamer gelaufen als sonst, sind ins Stocken gekommen, haben mit Hilfe des eigenen Sachverstandes, mit Hilfe der eigenen Erfahrungen, – sei es als Pendler oder Reisender, als Eisenbahner, Architekt, Ingenieur, als Stadtplaner, Künstler, Beamter, Arbeiter, als Mensch mit Handicap, haben uns mitten im Alltag die Frage gestellt –
was geht da vor sich, was ist da geplant?
Was ist da geplant, wenn in luftig, euphorisch und rosaroter Seifenblasenrhetorik Politiker, Unternehmer, Spekulanten und Journalisten vom Wohl von Pendlern reden, von Vorteilen für Reisende, von grandiosen Entwicklungs­möglichkeiten für Stadt, Land und Region palavern und Fortschritts- Mobilitäts- und Innovationskategorien gebetsmühlenartig aneinander reihen?

Und die, die da langsamer gelaufen sind, selbst gedacht haben, die haben mit Erstaunen, Ungläubigkeit und zunehmender Empörung festgestellt, dass diejenigen, die da so großspurig vom Wohl für andere reden, vor allem ihr eigenes Wohl und dessen Mehrung im Blick haben.
Dass jede Rede, alle Kommunikation, mit den Bürgern dazu dient, sie vor eine Wahl zu stellen, die von anderen schon entschieden worden war.
Dass wir es für gut befinden sollen, dass ein Bahnhof und eine zu ihm gehörende, mehr als ausreichend und vielfältig anpassbare Infrastruktur vorsätzlich schlecht geredet wird und bewusst vernachlässigt wird.
Und wir als Bürger es für gut befinden sollen, dass stattdessen ein absurd teurer Neubau durchgedrückt werden soll, der sich darin auszeichnet, dass er für obszön viel Geld, grotesk wenig Leistung bietet.


Herr Prof. Martin: Was bleibt mir denn zu denken anderes übrig, wenn sie sich zitieren lassen mit den Worten:

„Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebenei­nanderliegenden Sackgassen ... Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten.“ Zitat:
http://www.region-stuttgart.org/vrsuploads/Interview _Martin.pdf
(Anmerkung: dieser Link existiert nicht mehr (!), das Interview Prof. Martin findet sich aber als Link hier).


Herr Grube, was bleibt mir denn zu denken anderes übrig, wenn sie im Radio (SWR 1, Leute) im Brustton der Überzeugung sagen:

„Der neue Bahnhof hat halb so viele Gleise und wird doppelt so viele Züge pro Stunde abwickeln.“

Tondatei 5 Sekunden:

grube2

Was bleibt mir, meine Herren, bei solchen Aussagen denn anderes übrig, als den Schluss zu ziehen, dass Sie mich in geradezu unverschämter, unverfrorener Art und Weise für dumm verkaufen wollen. Dass uns eine schon vorher bekannte Minderleistung als Leistungssteigerung verkauft werden sollte, das ist das eigentlich Empörende.

Wir sollen etwas wollen und für gut befinden, dass uns zurück­wirft. Und eben nicht nur uns, die wir hier stehen, sondern auch die Vielen, die mit der Bahn tatsächlich und Tag für Tag zu tun haben.

Mathematisch-statistisch abgesicherte Modelle zu Schienen­verkehren und konkreter Bahnbetrieb sind von zweierlei Qualität. Das gilt immer, aber vor allem dann, wenn wir uns als Pendler, Reisende, S-Bahn-Nutzer, Stadtbahnfahrer begreifen, die sich doch schon heute, bevor sie aus dem Haus gehen, fragen, und jeden Tag ein bisschen besorgter, was der Tag wohl wieder bringen mag?
Welche Linie ist heute dran? Wie geht heute das große DB Signal- und Weichenstörungsroulette für mich aus?
Oder, gibt es heute schon wieder die doppelte Gewinnchance durch die Kombination mit der VVS-Bonusfrage „Wo lauert und wie lange dauert die Türstörung des Tages?“ Als Gewinn winken 40 Minuten Zusatzverspätung.

Liebe Eilige, liebe nicht Verweilende! Die Montagsdemos zielen nicht auf eure Verärgerung, sondern dienen einer Besinnung. Wobei Besinnung mit Besinnlichkeit nicht viel zu tun hat.
„Besinnung“, so sagt es der zur Zeit viel gescholtene, vermutlich wenig gelesene und noch seltener verstandene Martin Heidegger: Besinnung besteht darin, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigensten Ziele zum Fragwürdigsten zu machen. (vgl. Martin Heidegger, GA 5, S. 75).

Das täte einem jeden Menschen gut und einer Gesellschaft als Ganzer erst recht. Ganz besonders täte sie denjenigen gut, die immerzu von Fortschritt reden und nicht im Ansatz bereit sind, über Standpunkt – von wo aus – und Richtung – wo denn hin – nachzudenken.
Fortschritt ohne Besinnung führt zu einem Rennen im Kreis.
Und wer im Kreis rennt, dem nützt es wenig, wenn er noch ein wenig schneller rennt – weil er meint, dann sein Ziel früher zu erreichen.

Liebe Eilende und hier nicht Verweilende! Diejenigen die hier Woche für Woche stehen, bilden seit geraumer Zeit einen kleinen aber wirksamen Pfahl im Fleisch der öffentlichen Meinung und reibungsfreien Ordnung.
Die, die hier stehen, sind die regelmäßig wiederkehrenden Störer des Alltäglichen, sind die Steine in einem Bachbett, an denen sich das stromlinienförmige Dahinfliesen des Alltags bricht.
Die hier Stehenden sind überzeugt, dass es sich lohnt für eine Sache einzustehen, auch wenn eine Mehrheit sie anders sieht. Denn die hier Stehenden wissen: Mehrheit und Sachverstand haben nicht immer so viel miteinander zu tun.
Wer gravierende Missstände erkennt und Argu­mente dafür aufzeigen kann, der kann nicht einfach aufhören und sagen: Die Mehrheit hat entschieden – dann wird schon alles gut.
Die Orientierung an der Wahrheit ist der Legitimationsgrund für Mehrheitsentscheidungen.

Liebe Eilende, nicht Verweilende: Sie können sicher sein, die hier Versammelten haben schon vor der Bemerkung Sigmar Gabriels, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt, als gegen einen neuen Bahnhof zu protestieren, darüber nachgedacht – ob es richtig ist, hier Woche um Woche die Stimme zu erheben und für eine Sache einzutreten, von der sie sehr wohl wissen, dass von ihr nicht Wohl und Wehe der Welt abhängen, es bei ihr nicht um Krieg oder Frieden geht.

Lieber Herr Gabriel, das soll ihnen doch noch einmal ausdrücklich gesagt sein: Wir alle wissen, auf welch schmalem Grat wie uns bewegen. Aber gerade weil wir uns besinnen, d. h. unseren Standpunkt reflektieren, unsere Ziele überprüfen, können wir ihnen sagen: Ja, Herr Gabriel, sie haben Recht, es gibt Wichtigeres als diesen Bahnhof da vorne.
Doch das muss ihnen auch gesagt werden: Herr Gabriel. Wären Sie ein Erzengel – ja ein Engel nur, dann wäre eben
bei uns die Sorge nicht da, dass sie mit ihrer Bemerkung etwas ganz anderes im Sinn haben, als uns zur Besinnung zu bringen.

Lieber Herr Gabriel nun sind sie halt ein Politiker – ein Wirtschaftsminister, ein Vizekanzler gar, nehmen sie es uns also nicht übel, wenn wir davon ausgehen, dass es ihnen in erster Linie gar nicht darum geht uns zur Besinnung zu bringen, sondern, dass ihr primäres Ziel darin besteht uns zum Schweigen zu bringen.

Denken Sie doch ein wenig nach, Herr Gabriel. Würde man ihrer Meinung folgen: Wer hätte dann überhaupt noch die moralische Rechtfertigung zu demonstrieren? Gäbe es dann nicht immer einen, der sagt und zu Recht sagt – ihr habt zu Schweigen, denn es gibt noch viel größeres Unrecht als das wogegen ihr an Ort und Stelle innerhalb eurer Lebens­wirklichkeit demonstriert.

Ich wiederhole mich hier gerne: Wie wissen selbst, dass wir einen schmalen Grat begehen, und jede Woche herausge­fordert sind von unserem Gewissen. Vor unserem Gewissen haben wir uns zu verantworten Herr Gabriel, nicht vor ihnen.

Liebe Eilige, nicht Verweilende. Ob die öffentlich Bekundung des Protests zum Erfolg führen wird, das ist und bleibt offen. Alle hier wissen um die begrenzte Wirkung ihres Tuns. Aber diese hier und ich mit ihnen glauben, dass umfassendste Planungen und Berechnungen nicht ausreichen, das Schicksal bzw. die Entwicklung einer Gesellschaft zu steuern, zu lenken oder gar zu gestalten.
Das Unverfügbare lässt sich nicht berechnen und auch nicht beherrschen, das merken doch schon die, die meinen, man könnte die Natur rechnerisch in den Griff bekommen.
Die werden noch ihre quellenden Wunder erleben, wie auch ihre Berechnungen noch ganz schön ins Erdrutschen kommen werden.

Die, die den Bahnbetrieb nur aus der Simulationsperspektive kennen, die werden stauen, wie bockig eine Bahnhof werden kann, wenn er mit Gleisneigungen gequält wird, die schon nicht mehr mit „abenteuerlich“, sondern nur noch mit dem Attribut „kriminell“ bezeichnet werden können.

Man darf keine Bahnhöfe bauen, in denen die Gleisneigung so groß ist, dass keine Fahrtrichtungswechsel, Verstärkungen Schwächungen, Lokwechsel, Bremsproben, keine gegen­läufigen Doppelbelegungen mehr durchgeführt werden dürfen – also all das, was ein Eisenbahnbetrieb erfordert, wenn er aus der Perspektive der Reisenden und der Eisenbahner gedacht und gemacht werden soll.

[Was das mit der Gleisneigung bedeutet, können Sie jedem Interessierten im Moment am Gleis 5 oder 6 des Hbf. zeigen. Von dort fahren 2-stündig die ICEs von Stuttgart nach Hamburg. Meist ist es ein 14teiliger ICE1, der vom Triebkopf am Prellbock bis zum Spitzen-Triebkopf ca. 410 m und 70 cm lang ist.

Sie gehen am Zug entlang und bleiben am Spitzen-Triebkopf stehen und besteigen in Gedanken den Sprungturm ihres Freibades. Schnell am
Einer vorbei, kommt das 3m-Brett in Reichweite. Dort angekommen nehmen sie die Leiter nach oben, zum Fünfer. Hier nun werden sie im neuen Tiefbahnhof von eben dem Triebkopf begrüßt, den sie unten verlassen haben. Aber obwohl sie auf dem 5er Turm stehen, können sie nun nicht über den Zug bis zu seinem Ende am Prellbock sehen, nein, sie sind erst auf Höhe der Schienenoberkante, auf der der Zug steht.]

Die, die so etwas entwerfen, planen und genehmigen, die müssen sich fragen lassen, ob sie noch alle Räder auf den Schienen haben?

Liebe Eilige, nicht Verweilende, wir laden euch herzlich ein hier mitzumachen und das heißt nichts anderes als selbst zu denken.
Denjenigen, die hier Woche für stehen, denen sei gesagt: Ihr steht für viele, für viele, die so denken wie ihr und doch nicht hier sind. Ihr, die ihr hier seit, Woche für Woche, Euch gebührt nicht Missachtung, sondern alle Achtung, Ihr verdient einen Preis für euer bürgerliches Engagement.

Geld regiert die Welt, aber gibt ihr noch keinen Sinn. Die Gedenken, die wirklich lenken, die kommen ohne Geld
und manchmal auf leisen Sohlen.
Heidegger zitiert einmal Nietzsche und lässt sich von ihm sagen: „Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“ In Stuttgart gibt es eine ganze Menge Tauben.

In diesem Sinne ist es nicht notwendig in die Luft zu gehen. Es reicht, wenn wir
oben bleiben.


Literaturhinweise:
Heidegger, Martin, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, (Gesamtausgabe, Bd. 5), Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 75-113.

Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. (Zweiter Teil. Die stille Stunde.) Nietzsche´ Werkes (Großoktavausgabe). Band VI, Leipzig 1923, S. 217.

Rohrhirsch, Ferdinand: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21,
3. Auflage 2011, Heidenheim, ISBN 978-3-925887-31-4

Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch
Esslingen am Neckar
www.ferdinand-rohrhirsch.de


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Buchpräsentation 09. Januar 2014, WKV Württembergischer Kunstverein Visionen + Aktionen für Kopfbahnhof und Stadt ArchitektInnen für K21

hier die gut formatierte Rede vom 9. Januar:

Vortrag_Buchpraesentation_Arch_fuer_K21_2014


Besinnung schenkt Ermutigung
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke den Verantwortlichen herzlich für die Einladung vor Ihnen sprechen zu dürfen. Der Anlass ist ein freudiger, ein Buch hat seinen Entstehungsprozess hinter sich. Es ist gedruckt und liegt nun öffentlich vor.

Eine Buchpräsentation, vor allem die eines Sammelbandes, ist ein Zeichen dafür, dass etwas abgeschlossen ist. Das stimmt auch für diesen Band. Auch in ihm werden Ergebnisse präsentiert, Standpunkte ausgebreitet, Zusammenfassungen vorgestellt.
Doch darüber hinaus ist er Zeugnis und Rechenschaft eines Denkweges, den die „Architek- tInnen-für-K21“ im Oktober 2010 eröffnet haben und seither bewandern.
Der Band versammelt und präsentiert Stationen eines Nachdenkens zu einem Thema, das uns, wenngleich individuell verschieden, intensiv beschäftigt, umtreibt, angeht, fertigt macht oder gemacht hat, schlaflos zurück lies und sicherlich Einige hart an den Rand der Resignation führte und gelegentlich ein wenig darüber hinaus.
Der Band ist das Resultat eines Unterwegshaltes, der zu einer Reise gehört, die noch nicht beendet ist, und bei der es überdies auch offen ist, wo sie und wie sie für uns, für die Stadt Stuttgart und für die Bahn AG enden wird.
Das Buch ist Resultat einer verweilenden Besinnung. Verweilen. Verweilen bedeutet in keinerlei Hinsicht aufzuhören. Ein Wanderer, der verweilt, indem er rastet, ist keiner, der sich von seinem Ziel abkehrt oder es gar aufgibt. Die Rast ist integraler Bestandteil seiner Wanderung. Im Verweilen geschieht und vollzieht sich ein sich besinnendes, reflektierendes Kraftschöpfen für den weiteren Gang. Im Verweilen passiert äußerlich nahezu nichts und geschieht doch wesentliches.
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Das, was bisher geleistet wurde – der bisher absolvierte Weg – ist ebenso im Fokus, wie die bevorstehende Strecke. Der Blick zum Himmel gehört dazu, wie der in die Karte. Die Über- prüfung der Ausrüstung, wie die Beobachtung der unmittelbaren Umgebung – als das ge- schieht im Verweilen.
Und – wie gesagt – von all dem sieht man wenig bis nichts. Der Wanderer ruht und ist doch voller Dynamik. Nur durch sein Verweilen hat er überhaupt die Chance sein Ziel zu erreichen. Das ist ja das Fatale in so vielen Unternehmen: Dynamik wird erwünscht und statt ihrer wird Hektik produziert. Hektik, die häufig zu Resignation und Aufgabe führt.
Besinnung. Wie Verweilen nichts mit Aufgeben oder Kapitulieren zu tun hat, so wenig hat Besinnung mit Besinnlichkeit tun. „Besinnung ist der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen.“
(Heidegger, GA 5, Die Zeit des Weltbildes, S. 75).
Orte, die zu einer verweilenden Besinnung taugen, bieten die Möglichkeit das eigenartige We- sen des Menschen offenkundig machen, das darin besteht, dass er, mitten in seiner alltägli- chen Gegenwart, von Vergangenheit und Zukunft durchdrungen ist. Mitten im Jetzt ist er über dieses hinaus und kommt doch nicht von ihm los.
An solchen – ausgezeichneten – Orten, an denen sich die Zeiten versammeln, ist es möglich zu erfahren, wie es um den Menschen steht. Der Stuttgarter Kopfbahnhof mit seinem Turm ist so ein Ort.
Der Stuttgarter Kopfbahnhof mit seinem Turm war und ist Repräsentant der Vision einer Ge- sellschaft, in der Menschen aller Schichten, Stände und Klassen, – die sich dem Flügelrad unterstellen –, Unterstützung erfahren in ihrem Bestreben hinauszuwandern, auf- und auszu- brechen aus Verhältnissen, die ihrem Wesen unwürdig sind und sie in ihrer Entwicklung be- hindern.
Für den Wirtschaftstheoretiker Friedrich List (1789-1846), der maßgeblich den Aufbau der Eisenbahn in Deutschland beeinflusste, waren die Eisenbahnen, die „eigentliche[n] Volks- wohlfahrts- und Bildungsmaschinen“. (Sonnenberger, 29). „Durch die neuen Transportmittel wird der Mensch ein unendlich glücklicheres, vermögenderes, vollkommeneres Wesen.“ (Ebd.)
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Insofern ist der Kopfbahnhof mit seinem Turm ein Wahrzeichen dessen, was Menschen von sich gehalten haben. Dieser Idee nach hieß Eisenbahn und bedeutete Eisenbahner zu sein: im Dienst einer Sache zu stehen, die Menschen zu dienen hat; die aber größer ist, als dass sie der Willkür Einzelner oder Interessensgruppen und ihrer Vorstellungen von Fortschritt, Mobilität und Wohlstand unterworfen werden dürfen.
Mit der Ausstellung zu S21 ist der Turm des Kopfbahnhofes erneut zum Repräsentanten eines Bildes bzw. einer Vision vom Wesen des Menschen geworden. Den entscheidenden Unter- schied zum früheren Bild von Eisenbahn und Mensch sehe ich darin, dass das Bild des Men- schen nun gar nicht anders gefüllt oder gerahmt ist. Sondern, dass die Frage nach dem (endli- chen) Wesen des Menschen überhaupt keine Rolle mehr spielt.
Friedrich List wollte die Eisenbahn nutzen zur Vervollkommnung des Menschen. Nun wird die Eisenbahn optimiert zur Vervollkommnung des Marktes. Die Frage nach dem Menschen ist verschwunden, diffundiert in den Funktionen und Relatio- nen, die eine reibungsfreie, marktkonforme Gesellschaft von ihren Subsystemen erwarten.
Was das heißt, will ich verdeutlichen, indem ich es zur Frage umformuliere: Was bedeutet es, wenn sich Sterbliche als Unsterbliche wähnen?
Der Schriftsteller Jorge Louis Borges hat in seiner Erzählung „Der Unsterbliche“ eine Stadt geschildert, die es einem jungen Mann, der nach Unsterblichkeit sucht, unmissverständlich klar macht, dass er die Stadt der Unsterblichen erreicht hat, die einstmals, wie er, Sterbliche waren.
Er suchte lange und nun stand er vor ihr. Sie war unbewohnt. Er drang in die Stadt ein. Je weiter er ging, desto seltsamer wurden die Gebäude. Häuser hatten Fenster, die in solch absurder Höhe angebracht waren, dass es völlig unmöglich war, sie zu öffnen. Riesige Gänge hörten einfach auf oder wurden immer kleiner, bis kein Durchkommen mehr möglich war. Türen führten in treppenlose Räume, in denen an der Zimmerdecke weitere Türen eingelassen waren. Gigantische Wendeltreppen, deren Geländer an der Unterseite angebracht waren, endeten schon nach wenigen Umdrehungen oder schraubten sich in unvorstellbare Höhen und hörten dann doch unvermittelt auf.
Bei der Erkundung eines Palastes war er am Anfang noch der Meinung: „Dieser Palast ist ein Bauwerk der Götter“. (S. 13). Ein wenig später präzisierte er sein Urteil: „Ich
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achtete auf seine Eigenheiten und sagte: Die Götter, die ihn gebaut haben, waren wahnsinnig.“ (Ebd.).
Für Unsterbliche (wie für sich unsterblich Wähnende) geht der Sinn ihrer Handlungen, wie der von ihnen gebauten Dinge verloren. Unsterblichkeit gebiert Leere. Unsterblichkeit ent- sinnt – die Dinge, wie die Menschen. Zurück bleiben glänzende Oberflächen, Betörendes, Blendendes.
Der Sinn von Eisenbahn, ihre physischen Fundamente und ihre Regeln werden gedehnt, über- schritten und schließlich missachtet – mit ihnen auch diejenigen, die Eisenbahn nutzen. Die, die auf die Dinge angewiesen sind, die erahnen schnell und erkennen früh, dass der Maß- stab der Güte von Dingen, ihre Tauglichkeit ist.
Vollendet oder gut sind Dinge nicht, wenn sie neu sind, teuer oder vermeintlich modern, son- dern dann, wenn ihre Wirklichkeit ihrer Realität entspricht, wenn ihre Konkretion, die ihr zugrundeliegende Idee zum Ausdruck bringt. Wenn die Dinge tauglich sind, dann sind sie gut.
Natürlich ist das alt. Es stammt aus dem anfänglichen Philosophieren des Menschen über das Seiende im Ganzen.
Im und am Bahnhofsturm zeigt sich einem sich Besinnenden ein Mehrfaches: Er kann ihn als Denkmal begeifern, das in der dort untergebrachten Ausstellung zum bloßen Requisit eines: „es war einmal“ gebraucht wird, besser: missbraucht und vergewaltigt wird. Denn mit der Ausstellung zu S21 ist der Turm faktisch penetriert, von den Animationen und Versprechun- gen eines Fortschritts,
für die er gerade nicht steht – und vielleicht auch selbst demnächst nicht mehr geradestehen will. Eigentlich stört er. Denn er erinnert an gelingende, d. h. menschlich verantwortbare Visionen von technischem Fortschritt.
Einem sich Besinnenden, der nach den eigenen Voraussetzungen und Zielen fragt, ist es mög- lich, den Turm als echtes Denkmal zu begreifen, das immer auch ein Element der Mahnung enthält, – den Dingen und sich selber ihre Voraussetzungen und ihre Ziele mithin ihren Sinn in Erinnerung zu rufen.
Geschieht dies, dann kann sich Herkunft als Zukunft zeigen und die Gegenwart den Raum freigeben, auch Bahnhöfe zu entwerfen, die modern sind, weil sie ihrem Ursprung und ihrem Sinn treu bleiben.
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Wie der Kopfbahnhof im wesentlichen Sinne ein Denkmal ist. So sehe ich in der heute prä- sentierten Veröffentlichung, im besten Sinne des Wortes, eine Denkschrift. Sie ist das Resultat einer Besinnung auf einer Wanderschaft, dessen Wegführung offen ist. Wer sich verantwortlich um die weitere Wegführung kümmert, kommt um die intensive Be- schäftigung mit diesem Sammelband nicht herum.
Anders und abschließend formuliert: Ihr ArchitektInnen-für-K21, ich weiß nicht wie ich Er- mutigung geben könnte, noch weniger weiß ich, warum ich das eigentlich soll. Durch die Lektüre eures Buch, im Nachdenken des dort Geschriebenen, habe ich mehr und mehr selbst Ermutigung erfahren.
Lest euer Buch und denkt über die in ihm formulierten Überlegungen, Argumente und Ein- sichten nach. Sie alle haben direkt und indirekt die Frage nach dem Menschen in ihrem Mit- telpunkt. Und die Frage nach dem Menschen ist die Frage, auf die nicht verzichtet werden kann, wenn wir die Frage beantworten sollen, welche Eisenbahn wir wollen.
Diese Frage wird an uns herangetragen werden. Das ist nur eine Frage der Zeit. Literatur:
Borges, Jorge, Luis, Gesammelte Werke. Band 3/II Erzählun-gen 1949-1970, München und Wien 1981 (darin: Der Unsterbliche, S. 7-24).Borges, Heidegger, Martin, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, (Gesamtausgabe, Bd. 5), Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 75-113.
Rohrhirsch, Ferdinand, Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21. Erklärungsversuch meiner Zuneigung zu einem gegenwärtig umstrittenen Kopfbahnhof, Siedentop: Heidenheim 3. erw. Auflage 2011. Sonnenberger, Franz, Mensch und Maschine. Technikfurcht und Techniklob am Beispiel Ei- senbahn, in: Zug der Zeit – Zeit der Züge. dt. Eisenbahnen 1835 – 1985, Berlin: Siedler, S. 24-37.
Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch – Esslingen am Neckar ferdinand-rohrhirsch.de / office@ferdinand-rohrhirsch.de


Redetext vom 25.03.2013 Marktplatz Stuttgart:
Montags_Demo_2013 - Kopie


Einige Anmerkungen zum Thema "Glaubwürdigkeit"

Liebe Freunde eines mit Vernunft gestalteten Bahnverkehrs in BadenWürttemberg, liebe Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofes,

Christen haben in dieser Woche eine besondere Gelegenheit
nachzudenken. Aber auch diejenigen, die mit Ostern nichts
anfangen können, haben durch die kommenden Feiertage
eine Reihe freier Tage, die sich zur Standortüberprüfung
nutzen lassen.

Für Fragen, derart: Was ist aus meinem Leben geworden? Bin
ich mit ihm zufrieden? Oder: Habe ich mich verrannt? Finde
ich mich auf Wegen, auf denen ich nie gehen wollte?
Wer nun in seinem Nachdenken zum Urteil kommt: Ich habe
mich verrannt, ich habe mich verplant, ich bin auf dem
falschen Weg – wird umkehren wollen.

Und jeder von uns weiß, und je älter desto gewisser:
umkehren, neu anfangen, das ist vom Schwersten.
Doch jeder, der seiner Wahrheit ins Auge sieht, weiß auch:
im Grunde habe ich gar keine andere Wahl als umzukehren,
wenn ich nicht sehenden Auges in mein Verderben
weiterlaufen will.

Was also soll ich von einem Menschen denken, der zugibt,
dass er sich verrannt hat – aber nun, statt umzukehren, zu sich
und anderen sagt: Leute, ich bin zwar auf dem falschen Weg,
aber weil ich schon so weit in die Irre gelaufen bin, etikettiere
ich den falschen Weg um und sage zu mir und zu denen die
mich begleiten: Das ist ab jetzt der richtige Weg für mich und
für euch. Menschen bliebe doch nur zu denken übrig: der
geht nicht nur in die Irre, sondern er ist selbst der Verwirrung
anheimgefallen.

Wer gegen seine eigene Einsicht handelt, der zerstört nicht nur
seine Selbstachtung, der zerstört nicht nur seine Identität, der
verhindert auch, dass ihm Glaubwürdigkeit zugeschrieben
werden kann.

Sehr geehrter Herr Dr. Grube, sehr geehrter Herr Dr. Kefer,
sehr geehrter Herr Prof. Martin.
Einem Menschen Glaubwürdigkeit zuzusprechen wage ich da,
‒ wo einer verspricht und sein Versprechen hält,
‒ wo einer, sobald er etwas weiß, sagt, was er da weiß,
‒ und, wo einer erkennt, nichts anderes, als das Erkannte
ausspricht.

Was nun, Herr Grube, soll ich davon halten, wenn Sie mir,
ganz Baden-Württemberg und der Republik monatelang
erzählen, bei 4,526 Milliarden Euro ist die absolute
Obergrenze erreicht, 'mehr ist mit mir nicht zu machen', von
Sollbruchstellen reden - und ein wenig später, das von ihnen
Gesagte Makulatur ist.

Unter "glaubwürdig", Herr Grube, verstehe ich etwas anderes.
Und Sie, Herr Kefer, innerhalb von zwei Monaten und ganz
kurz nach der Volksabstimmung gehen sie noch mal an den
Schreibtisch und rechnen nach und merken – hoppla, ich habe
mich ein wenig verrechnet. Jetzt sinds doch 2000 Millionen
Euro mehr als vor der Volksabstimmung geworden. Kann
doch mal vorkommen.

Unter "glaubwürdig", Herr Kefer, verstehe ich etwas anderes.
Und Sie Herr Prof. Martin, welchen Erkenntnisbegriff haben
Sie? Wie können Sie es zulassen, dass man Sie nach wie vor
mit folgenden Worten zur Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofes zitieren kann:
„Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinanderliegenden Sackgassen ... Wenn ein Zug diagonal ausfährt,
versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten.“
Zitat: http://www.region-stuttgart.org/vrsuploads/Interview
_Martin.pdf

Sie werden verstehen, dass ich, solange ich solche, mich
empörenden, Unwahrheiten – von ihnen unkommentiert –
lesen kann, ich ihnen keine Glaubwürdigkeit zusprechen kann.
Und dann sind ja noch all die Groß- bzw. Projektsprecher, die
vom Eisenbahnbetrieb nicht die Spur einer Ahnung haben,
aber z. B. lange Briefe (nachzulesen www.siegfried-busch.de)
an Herrn Egon Hopfenzitz schreiben, in dem sie ihm erklären,
wie Eisenbahn funktioniert.

Glaubwürdigkeit – meine Herren, sieht anders aus.
Mit ihrem Verhalten, meine Herren, lassen sie mir doch gar
keine andere Wahl, als dass ich ihnen die Glaubwürdigkeit
abspreche:

Auf Menschen, die erkennen und nicht danach handeln,
wissen und nicht mitteilen, versprechen und nicht halten –
auf solche kann man nicht bauen und mit solchen lässt sich
auch nicht bauen.

Liebe Freunde eines vernünftigen Bahnverkehrs.
Stuttgart 21 gehört gestoppt und zwar jetzt.
Ganz egal, was das jetzt kostet.

Aus Stuttgart 21 wird nichts:
- nicht nur, weil alles immer noch teurer wird
- nicht nur, weil es in großen Teilen noch nicht einmal
durchkonstruiert bzw. geplant ist (die Rede von Herrn
Heydemann letzte Woche müsste doch dem letzten
klarmachen, wie viel Dilettantismus hier am Werk ist.

  • nicht nur, weil die ganze Anlage viel zu klein ist.

Stuttgart 21 gehört gestoppt, weil die Idee, auf der das Projekt
ruht, nichts taugt. Dieses Projekt pervertiert die Idee von
Eisenbahn und missachtet in geradezu tollkühner Weise die
Grundprinzipien des Eisenbahnbetriebs.

Doch wer gegen das Wesen, gegen die Prinzipien und inneren
Gesetzlichkeiten einer Sache verstößt – der hat keine Chance,
dass aus dieser Sache noch etwas Gutes wird.
Das ist es, was der Satz des Philosophen Aristoteles sagen
will, dass der Anfang mehr als die Hälfte sei. (Vgl. Aristoteles,
Nikomachische Ethik, NE, 2. Buch 1098b)

Gute Dinge können dann entstehen, wenn wir zu hören in der
Lage sind und wenn wir die Natur der Dinge berücksichtigen.
Tun wir das nicht, dann kann es sein, dass wir dafür bezahlen
müssen, mehr, als was mit Geld je bezahlt werden kann.

Man darf keine Bahnhöfe bauen, für die Züge über Kilometer
in Tunneln, extremes Gefälle bzw. Steigungen zu bewältigen
haben, und schon kleine Unregelmäßigkeiten zu Katastrophen
führen können, bzw. restriktive Vorschriften notwendig
machen, die jeden angeblichen Zeitvorteil ins Reich der Fabel
verweisen.

Der Einwand, wir bauen aber doch vorschriftsgemäß, ist kein
gültiger mehr. Der neu gebaute Teil des Gleisvorfeldes im
Hauptbahnhof wurde im Rahmen geltender Vorschriften der
Bahn AG gebaut. Die Züge hat das bei ihren Entgleisungen
wenig beeindruckt.

Das ist es ja, was so besorgniserregend ist: dass die Vorschriften und Richtlinien für dieses Projekt bis in ihre Grenzbereiche und darüber hinaus aufgeweicht, nivelliert und
ausgehebelt wurden und werden.
„Sicherheit-Pünktlichkeit-Wirtschaftlichkeit“ hieß zu meiner
Bundesbahnzeit das Credo der Bahn. Heute klingt das wie ein
Mahnruf zur Besinnung aus der Verirrung, in der sich die
Bahn AG zur Zeit befindet.

Man darf keine Bahnhöfe bauen, in denen die Gleisneigung so
groß ist, dass keine Fahrtrichtungswechsel, Verstärkungen
Schwächungen, Lokwechsel, Bremsproben, keine gegenläufigen Doppelbelegungen mehr durchgeführt werden dürfen
- also all das, was ein Eisenbahnbetrieb erfordert, wenn er aus
der Perspektive der Reisenden gedacht und gemacht wird.

[Nicht vorgetragen: Was das mit der Gleisneigung bedeutet, können Sie jedem
Interessierten am Gleis 6 des Hbf zeigen. Von dort fahren 2-stündig die ICEs von
Stuttgart nach Hamburg. Meist ist es ein 14teiliger ICE1 der vom End-Triebkopf am
Prellbock bis zum Spitzen-Triebkopf ca. 410 m und 70 cm lang ist.
An diesem Triebkopf bleiben auf dem Bahnsteig stehen und besteigen in Gedanken
den Sprungturm ihres Freibades. Schnell am Einer vorbei, kommt das 3m-Brett in
Reichweite. Dort angekommen nehmen sie die Leiter nach oben, zum Fünfer. Hier nun
werden sie im neuen Tiefbahnhof von eben dem Triebkopf begrüßt, den sie unten
verlassen haben. Aber obwohl sie auf dem 5er Turm stehen können sie nun nicht über
den Zug bis zu seinem Ende am Prellbock sehen, nein, sie sind erst auf Höhe der
Schienenoberkante, auf der der Zug steht.]

Manchmal meine ich, dass diejenigen, die den Turmbau zu
Babel projektiert haben, weniger verwirrt waren, als diejenigen die sich solche Gleisanlagen ausdenken. Übertroffen werden sie nur noch denjenigen, die so etwas auch noch genehmigen.

Der Bau von Stuttgart 21 gehört gestoppt und zwar jetzt.
Dieser Tiefbahnhof ist die degenerierte Ausgeburt einer
Kreuzung aus technischem Größenwahn mit nicht
vorhandener Kompetenz, gepaart mit einer neoliberalen
Liaison aus städtebaulich-spekulativer Profitmaximierung mit
politisch-ökonomischem Filz auf Kosten einer funktionierenden Eisenbahn.
Ein Baustopp ist nicht die Lösung. Er ist und bleibt der erste
Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Das Lamento: dann ist
für ein Jahrzehnt der Ofen aus, ist substanzlos. Wir haben
einen funktionierenden Bahnhof, der jeden Tag des Jahres
mehr leistet, als es der Neue je wird leisten können.
Liebe Freunde, immer wenn ich gefragt werden, warum bist
du denn dagegen, dann sage ich: Ich bin wie Wolfgang
Drexler, Franz Fehrenbach, Dieter Hundt, und Dieter Zetsche
u. a. für eine leistungsfähige Infrastruktur, d. h. für gut ausgebaute Reisewege für Menschen, wie für effektive Beförderungswege für Güter. Ich bin für eine leistungsfähige
Verkehrsinfrastruktur für Stuttgart und Baden Württemberg –
und genau deshalb bin ich gegen Stuttgart 21. Denn mit all
dem hat Stuttgart21 nichts zu tun.
Und denjenigen, die einen modernen Bahnhof wollen, denen
ist zu sagen: „Modern“ hat mit „neu gebaut“ überhaupt nichts
zu tun, und „neu gebaut“ heißt noch lange nicht
„leistungsfähig“.7
In der Osterzeit, seien es für Sie Feiertage oder freie Tage,
erhöht sich die Gelegenheit zum Verschnaufen, zum
Nachdenken, zur Standortüberprüfung.
Vor sich selbst zu bestehen, das ist und bleibt die Aufgabe für
uns alle. Wir haben bei unserer Prüfung auch die anderen in
Blick zu nehmen. Die anderen, das können mehrere, ja sogar
die Mehrheit sein. Die Mehrheit ist zu achten, sie ist zu
respektieren. Verpflichtet aber sind wir allein unserem
Gewissen und sonst niemandem. Das gilt für alle von uns, es
gilt auch für Ministranten, Minister, und es gilt auch für einen
Minister-Präsidenten.

Gute Feiertage und Oben bleiben.

Literaturhinweise:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, griechisch - deutsch, Düsseldorf - Zürich 2001.
Rohrhirsch, Ferdinand: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21, 3. Auflage 2011,
Heidenheim, ISBN 978-3-925887-31-4
Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch
http://www.ferdinand-rohrhirsch.de

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Feb24$02

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13. Plädoyer für den Südflügel, Montag, 10. 10. 2011 Stuttgart Hbf (Südflügel)

In einem Durchgangsbahnhof steigt man aus, in einem Kopfbahnhof kommt man an.

Prof. apl. Dr. theol. habil. Ferdinand Rohrhirsch

Experten zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Gesamtzusammenhang in Elemente differenzieren, von einem dieser Elemente vieles wissen, und deshalb von der Sache (vom Gesamtzusammenhang) immer weniger verstehen. Das eigentliche Problem von Experten ist, dass für sie nur das vorhanden ist, exis- tiert, was sich unter Benutzung der fachmethodisch anerkannten Methodologie messbar bzw. quantifizierbar machen lässt. Was unter diesen Bedingungen nicht messbar ist, das gibt es auch nicht.
Von Experten sind Sachverständige zu unterscheiden. Sachverständige sind solche, die die Grenzen ihres Faches nicht mit den Grenzen der Realität gleich- setzen. Herr Hopfenzitz (langjähriger Leiter des Stuttgarter Hbfs) ist aus mei- ner Sicht der Dinge ein Sachverständiger. Ich kannte Herrn Hopfenzitz lange Zeit nicht persönlich, aber wenn einer, der sein Leben lang in einer Beamten- bahn groß geworden ist und vermutlich reichlich Beamtenmentalität eingeat- met hat, nun öffentlich aufsteht und sich gegen S21 ausspricht, dann gibt mir das in allerhöchstem Maße zu denken. In seiner Geradlinigkeit ist er mir zum Vorbild geworden.
Darüber hinaus ist es schon bemerkenswert, dass die großen Tageszeitungen in Stuttgart es seit Jahren nicht fertigbringen mit ihm ein Interview zu führen. An seiner Bereitschaft, das weiß ich mittlerweile, liegt es nicht. Insofern sind auch nicht geführte Interviews dann doch wieder erhellend bzw. Erkenntnis erweiternd.
Ich pfeife auf eine sog. „Jahrhundertchance“, auf „modern“ und ähnliche Schlagworte. Denn das Wesentliche war schon immer jenseits der Kategorien alt oder neu, modern oder unzeitgemäß. Viele betriebliche, fahrplantechnische, bauliche und technische Aspekte sprechen für die Beibehaltung eines refor- mierten Kopfbahnhofes. Das ist für mich belegbar und bilden für mich die har- ten Faktoren.
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Die weichen und wirklich wichtigen Faktoren kommen hinzu und sind anderer Art. Sie sind im In-der-Welt-sein des Daseins, im Komfortbereich und in der Lebensqualität des Menschen angesiedelt. Komfort und Lebensqualität waren und sind noch im Stuttgarter Hauptbahnhof da vorhanden:
- Wo man theoretisch, von Karlsruhe her kommend, keinen Anschluss an den RE nach Tübingen hatte. Praktisch aber, durch die ebenerdige Verbindung von Gleis 15 zu Gleis 3, dieser Zug dann doch noch erreicht werden konnte, weil keine Treppen, keine Lifte, keine kaputten Gepäckbänder oder Rolltreppen benutzt werden müssen.
- Wo man, noch ziemlich müde, um 6:26 Uhr von Esslingen kommend, relativ sicher sein konnte, dass der RE nach Nürnberg (ab 06:40) schon auf seinem Gleis stand.
- Äußerst angenehm waren die die 27er (07:27; 09:27 etc.) ICEs nach Ham- burg. Diese kamen vom BW (Betriebswerk) und standen manchmal bis zu 20 min vor der Abfahrt schon an ihrem Gleis. Eine Reise beginnt nicht schlecht, wenn man mit einigem Gepäck und doch in Ruhe einen Zug betreten kann.
- Äußerst angenehm war auch das Gefühl, nicht sofort aussteigen zu müssen. Denn der Zug konnte ja nicht mehr weiter fahren. Da ging es nur um Sekunden bzw. ganz wenige Minuten, aber sie haben eine Entzerrung und ein mehr an Ruhe und Gelassenheit in den Alltag gebracht.
Das alles wird mit S21 nicht mehr der Fall sein. Aber ich bezweifle, ob das die manischen Optimierer von Abläufen überhaupt verstehen, was ich da sage und schreibe. Ganz sicher werden sie auch nicht verstehen, dass ich mich für die Beibehaltung des Kopfbahnhofes und seiner Modernisierung ausspreche, weil, neben all den betrieblichen und technischen Argumenten, die samt und sonders für den Kopfbahnhof sprechen, das für mich Entscheidende des Stuttgarter Kopfbahnhofes darin zu sehen ist:
In einem Durchgangsbahnhof steigt man aus, in einem Kopfbahnhof kommt man an.
Das ist kein kleiner Unterschied. Er beschreibt unterschiedliche Welten. Es ist der Unterschied zwischen einer technisch automatisierten Prozesswelt, in der der Mensch zum Element wird, zu funktionieren hat und in die technischen
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Abläufe eingepasst wird, und einer Welt, die sich an humanen Maßstäben ori- entiert; in der die Technik für den Menschen da ist und nicht die Menschen für die Technik.
Die Bilder und Visualisierungen vom geplanten Tiefbahnhof sind ein auf- schlussreiches Indiz für die Vermutung, dass sich der Mensch dem Tiefbahn- hof, d. h. seiner technischen Machbarkeit unterzuordnen hat. Die Bilder zeigen hochglänzend, männliche und weibliche Manager und Urlauber. Menschen in ihrer Jugend oder im Erwachsenalter, einige Paare, keine Kinder, keine Senio- ren, keine Familien und keine Beeinträchtigte bzw. Behinderte. Von ihnen ist weit und breit nichts zu sehen. (Visualisierungen zum Tiefbahnhof, stutt- gart21.de, Aldinger & Wolf, Nr. 10, 11, Datum 22. 11. 2010). Es ist eine kli- nisch reine, durchorganisierte, erfolgreiche Welt. In ihr vermag sich jeder selbst zu helfen und hier ist jeder seines Glückes Schmied. Für solche, wie Herr Drewes (vgl. seinen Beitrag zum Schlichtungsgespräch „Sicherheit“. Ale- xander Drewes, mehrfach behindert, ist Behindertensprecher des Fahrgastver- bandes Pro Bahn), ist der Tiefbahnhof nicht konzipiert. Es ist auch hier, wie so oft, eine Frage der Definition, was man unter „Barrierefreiheit“ versteht. Wo aber 35 Fahrtreppen und 15 Aufzüge gebraucht werden, um Barrierefreiheit herzustellen, ist es um diese nicht gut bestellt, bzw. verhöhnen derartige Wer- beaussagen (vgl. Dialog 21, 09/2010, S. 1), die Situation derjenigen, die diese Barrierefreiheit tatsächlich benötigen.
Dieser Bahnhofsentwurf ist für standardisierte Reisende geplant. In ihm kommt die gesellschaftspolitische Annahme zum Ausdruck, man könnte den Anforde- rungen einer globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft nur mit Standardisie- rungs- und Generalisierungsprozessen erfolgreich begegnen. Das ist zu kurz gedacht.
Die Fahrt mit der Eisenbahn (und mit jedem Verkehrsmittel) war und ist nie- mals eine Fahrt von A nach B, sondern stets eine von Lebensabschnitt zu Le- bensabschnitt.
Aus der Grundfrage bzw. Grundsorge menschlicher Existenz muss auch die Ursprungsaufgabe einer Eisenbahn abgeleitet werden. Bahn ist nicht Selbst- zweck. Sie hat „nur“ die Aufgabe gemäß ihren Mitteln zum gelingenden Leben von Menschen beizutragen.
Ich vermute, dass dies für die Menschen der eigentliche Grund ist, sich gegen dieses Projekt zu stellen. Das Projekt ist nicht für die Menschen (Reisenden, Pendler etc.), sondern die Menschen (Reisenden, Pendler etc.) haben sich die-
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sem Projekt anzupassen. Es ist ein Jahrhundertprojekt, doch es stammt aus ver- gangener Zeit. Es ist das Artefakt eines Denkens, das die New Economy her- vorbrachte und in der Finanzkrise der Jahre 2009/10/11/12 ... ihre Fortsetzung fand.
Alles, was zu Zeiten der New Economy futuristisch (futuristisch war, was Mehrwert in Aussicht stellte) angehaucht war, war toll. Die Frage, ob das Tolle auch sinnvoll ist, war zu dieser Zeit nicht erlaubt, weil reaktionär und wenig zielführend. Heute wird dieselbe Frage mit wohlstandsverwöhnt und fort- schrittsängstlich verboten. Und doch spüren es viele: Dieses Projekt dient nicht den Reisenden. Mit diesem Projekt werden nicht nur die Bewohner der Region Stuttgart, sondern auch die Stuttgarter Bürger unter die Räder einer Bahn ge- worfen, d. h. zu Insassen von Zügen, die in einem horizontalen Hamsterrad (Tiefbahnhof - Untertürkheim - Bad Cannstatt - Tiefbahnhof) ihre zwar schnel- len, aber ebenso sinnfreien Kreise ziehen.
Es gilt für Menschen, für Städte, wie Unternehmen: Wer seiner Herkunft nicht achtet, für den kann es keine gelingende Zukunft geben. „Herkunft aber bleibt stets Zukunft.“ (Heidegger, GA12, Unterwegs zur Sprache, S. 91). Die Her- kunft bedenken heißt nicht: blinde Restaurierung des Alten. Es bedeutet satt dessen, eine Reformierung des Bewährten. Die Herkunft zu bedenken hieße, den Mut zu haben, endlich einmal wieder Wesensfragen in den Mittelpunkt zu stellen. Was soll denn Bahn primär leisten und für wen soll sie es primär leis- ten? Meine Antwort: Bahn ist, wie schon gesagt, als Hilfe zum gelingenden Leben von Menschen zu begreifen. Sie ist kein Selbstzweck. Bahn ist zu alle- rerst Bahn der Bürger einer Stadt, wie Bahn für die Bewohner einer dazugehö- renden Region. Sie hat beide miteinander zu verbinden und in der Folge Stadt und Region in die Weite des Landes anzubinden.
Die vermeintlich alte Bahn ist die Zukünftigere, weil sie die notwendige Mo- dernisierung der Stadt und dieser Region, mit den Bedürfnissen und Charakte- ren der Menschen, die hier wohnen, denken, tüfteln und schaffen in Einklang zu bringen vermag.
Der Kopfbahnhof ist näher am Wesen dieser Stadt. Stuttgart ist keine Durchgangsstadt.
Es ist schön in einer Stadt anzukommen, die, zusammen mit ihrem Kopfbahn- hof, ihr Wesen selbstbewusst, stolz, und sich – eigenwillig kokett – bewusst außerhalb von Moden präsentiert. Nicht in Tunneln und Gruben – nicht unter
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der Erde – sondern im taghellen, lichten Glanz, der sie umgebenden und schüt- zenden Hänge, Lagen und Höhen.
Dann ist zwar Stuttgart niemals „in“, aber auch niemals „out“. Wer sich dau- ernd vergleicht, der macht sich gleich und im schlechten Sinne „egal“. Wer sich dauernd vergleicht, kommt aus dem Gehetze nach den neuesten Trends nicht mehr heraus. Der gewinnt nicht, sondern verliert, auch seinen Charakter. Wer immer nur auf andere schaut, und nie nach sich und seinem Selbstver- ständnis fragt, und ihm gemäß zu handelt lernt, der hat, mitten im Erfolg, den Grundstein für seinen Niedergang gelegt.
Der Stuttgarter Kopfbahnhof vermag all das im Übermaß zu leisten, was unter den gegeben gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Anforderun- gen eisenbahntechnischer Verkehr zu leisten hat. Stuttgart 21 ist zwar ein Pro- jekt der Bahn AG, aber es ist dadurch noch kein Eisenbahnprojekt.
Eisenbahn geht anders und Eisenbahn geht besser. Das zeigten uns die, die diesen Bahnhof mit seinen Gleisanlagen bauten und planten, das wissen die, die diesen Bahnhof benutzen.
In diesem Sinne: Oben bleiben.
Der Text ist nahezu wörtlich entnommen aus: Ferdinand Rohrhirsch, Philoso- phie, Eisenbahn und Stuttgart 21, Heidenheim: Siedentop 2011. (2. Auflage, S. 52-54, 22, 59-61).
www.ferdinand-rohrhirsch.de E-mail: office@ferdinand-rohrhirsch.de


Montagsdemo_S21stuttgart21

Reflexion zu Stuttgart21: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21, Information.

Rede auf der "Montagsdemo" vom 04.07.2011, Stuttgart Hbf, Arnulf-Klett-Platz

Rede auf der "Montagsdemo" vom 27.09.2010, Stuttgart Hbf, Nordausgang.

Anmerkungen zu meiner Unterstützung von K21, Kopfbahnhof21, Stuttgart.