19. März 2008
Memory I (Offener Brief)
Der Wall
an Herrn Baubürgermeister Matthias Hahn, Rathaus Stuttgart.
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Sehr geehrter Herr Bürgermeister Hahn,
mit größtem Interesse habe ich Ihre Ausführungen zu S 21 am 26.2.08 im Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses verfolgt. Ihre Sicherheit und Ihr Engagement in der Sache haben mich bei Ihrem Vortrag beeindruckt. Ich begrüsse es sehr, wie sich die Stadt Mühe gibt, die Bürger sachkundig zu S 21 zu informieren. Leider wird dabei viel verschwiegen.
Darf ich vier Rückfragen an Sie stellen? Sie sprachen im Rathaus nicht gerade freundlich vom jetzigen Zustand im Schlossgarten, von einem „Wall“ bis zu 15 m Höhe. Da ich oft mit dem Fahrrad die Platanenallee entlang fahre, ist mir dieser Wall sehr wohl bekannt. Ich habe auch Fotos gemacht:
Das ist der heutige Blick auf die Bahnanlagen (Wall) auf der Höhe Neckartor bzw.Rossebändiger. Meine erste Frage: ist das irgendwie mangelhaft oder gar abschreckend? Nun lese ich im Amtsblatt vom 28.2.2008, dass ungefähr auf dieser Höhe (Neckartor) direkt am Park Hochhäuser (Ministerien) empor ragen sollen. Ist das etwa schöner? Da ist der begrünte und den Park beschützende „Wall“ doch die reine Erholung dagegen!
Der von Ihnen beklagte „Wall“ hat noch eine andere Funktion: er wirkt wie eine Aussichtsplattform auf die Stadt und auf den Schlossgarten. Ein Blick aus dem Zugfenster:
Das ist die schöne „Visitenkarte“ für Stuttgart, nicht der in der Werbeschrift des OB Schuster angeführte moderne (wie lange bleibt er modern?) Bahnhof mit Rolltreppen, Aufzügen und „Lichtaugen“. So blind sind die Stuttgarter nicht, dass sie dieser plumpen Argumentation auf den Leim gehen.
Ihr tristes Foto von der Unterführung (von Ihnen als „einziger Durchschlupf“ abgewertet) zur Wolfram- bzw. (Galgenbuckel)-Nordbahnhofstraße ist doch auch deshalb so trist, weil im verengten Blick auf S 21 die Bahnanlagen verlottert sind. Soll es – wenn der Wall erst weg ist - künftig durch den Schlosspark etwa noch andere Auto-„Durchschlüpfe“ geben?
Das nächste Foto ist wie das ganz oben von der Fussgängerbrücke im Februar 2008 aufgenommen:
Hier ist der Blick auf das schöne Stuttgart, wie es auch die Bahnfahrer nach beiden Seiten sehen, noch frei – künftig aber verstellt von Beton-Hochbauten, die ebenso gut in jeder anderen europäischen Stadt stehen könnten. Auch die vertrauten Züge (haben SIE nie Eisenbahn gespielt?) sollen künftig aus dem Stadtbild verschwinden und damit gleichzeitig die Stadt aus dem Blick und dem Bewusstsein der Reisenden.
Fährt man mit der Bahn in Stuttgart ein, liegt die Stadt wie ein aufgeschlagenes Buch im Blick, jetzt soll dieses Buch zugeklappt werden. Zehntausende von Bahnfahrern gucken dann buchstäblich in die Röhre statt auf unsere schöne Stadt, Durchreisende bekommen gar nichts von Stuttgart zu sehen, die Stadt wird zu einem Haltepunkt, Reisequalität wird zu Reise-Fastfood. Das ist ein schlimmer Verrat an Stuttgart. Wo ist „Stuttgart“ für die Bahnreisenden geblieben? Auf das Ärmlichste reduziert in Tunnels und Tiefstationen?
Vorschlag: ziehen Sie wenigstens in Gedanken vor Ihrem Wohnzimmer-Aussichtsfenster auf der Uhlandshöhe in geringem Abstand eine schwach beleuchtete, gekrümmte Betonwand hoch, dann haben Sie exakt den Blick von 350 000 Bahnfahrern (sind es etwa nur 150.000?) tagtäglich auf die Stadt Stuttgart.
Mit freundlichen Grüssen
Siegfried Busch