Offener Brief = Memory 19 am 3. Oktober 2010

„politische Mechanismen“

Bezug:
Der evang. Landesbischof Frank Otfried July in der
Stuttgarter Zeitung am 2. Oktober 2010:

Wenn die Dinge um Stuttgart 21 auch alle legitimiert sind im Projektverlauf, so muss man doch wahrnehmen, dass ein Teil der Bürgerschaft damit große Probleme hat.

Wir können es uns nicht erlauben, einen Bruch zu erleben, in dem die politischen Mechanismen nicht mehr ernst genommen werden.

Es bedarf eines Gesprächs, in dem geklärt wird, was geschieht eigentlich in der Stadt. Es ist eine Krise, die wir erleben. Der gesellschaftliche Diskurs klappt nicht mehr.“
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Sehr geehrter Herr Landesbischof Dr. July,

Sie sind, zusammen mit Ihrem Mitarbeiter Pfarrer Bräuchle, in einer schwierigen Situation. Sie sprechen sich für geltende „politische Mechanismen“ aus. Diese Mechanismen sind bei Stuttgart 21 zum Beispiel auch

  • falsche oder stark geschönte Vorgaben der S21-Betreiber für die politischen Gremien in Stadt, Land und Bund
  • Blockabstimmungen zur Erreichung einer Mehrheit (die persönliche Entscheidung wird den Mandatsträgern genommen)
  • Zurückhalten negativer Gutachten und Ereignisse (Bohrloch 203)
  • Behauptungen wie „alternativlos“ oder „unumkehrbar“
  • Verweigerung einer öffentlichen Diskussion mit den Gegnern (Beispiel Veranstaltung im Theaterhaus mit Sascha Behnsen ohne Vertreter der Bahn)
  • Schaffen von Fakten, die noch gar nicht nötig sind wie Abbruch des Nordflügels
  • Verweigerung einer Neubesinnung und Neuabstimmung trotz stark veränderter Ausgangslage bei Kosten und Fakten
  • Diffamierung der Gegner als von Grünen und Linken manipuliert aus parteipolitischem Machtdenken heraus
  • völlig überzogene Härte bei Polizeieinsätzen, insbesondere am „schwarzen Donnerstag

Dies alles sollte tatsächlich in einem „gesellschaftlichen Diskurs“ erörtert werden unter der Voraussetzung einer Baupause. Die ausgestreckte Hand ist sonst wirkungslos und nur andauernder und verstärkter Protest bleibt als Alternative.
Denn es ist nicht etwa „ein Teil der Bürgerschaft“, sondern die qualifizierte Mehrheit, die gegen das Wahnsinnsprojekt Sturm läuft. Wenn Pfarrer Bräuchle entgegen allen Umfragen von der „schweigenden Mehrheit“ spricht, erscheint dies als durchsichtiger Trick und schadet der Glaubwürdigkeit.

Mit freundlichen Grüßen

Siegfried Busch

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Brief Fischer

em. Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischer
Baumreute 41
70199 STUTTGART

Tel./Fax : 0711 / 6407839


Prof. Dr.-Ing. M. Fischer, Baumreute 41, 70199 Stuttgart

Herrn
Landesbischof Frank O. July 2.10.2010

Gänsheidestraße 4
70184 STUTTGART



Krise um Stuttgart 21


Sehr geehrter Herr Landesbischof July,

ich habe heute Ihr Interview in der Stuttgarter Zeitung gelesen. Dies veranlasst mich, Ihnen zu schreiben, da Sie eine Plattform für einen Gesprächsaustausch anbieten wollen. Ich möchte Ihnen dazu einige Informationen zukommen lassen.

Ich selbst habe zu Beginn der Projektüberlegungen von Stuttgart 21 eine gewisse Sympathie für dieses Projekt gehabt, bin aber im Verlauf meiner Recherchen völlig davon abgekommen und bin nunmehr ein Befürworter von K21. Gründe dafür sind teils persönliche Neigungen und Vorstellungen, aber diese habe ich eher als nicht so maßgebend zurückgestellt. Mich hat nämlich besonders die Frage interessiert, ob Stuttgart 21, gemessen an den versprochenen Leistungen zu rechtfertigen ist. Projektbefürworter und Projektgegner liegen nach ihren jeweils eigenen Äußerungen hinsichtlich der Wünsche an ein solches Projekt nicht so weit auseinander.

  • Beide Gruppen wollen, dass der Schienenverkehr verbessert wird.
  • Beide Gruppen wollen eine gute wirtschaftliche Weiterentwicklung.
  • Beide Gruppen wollen der Ökologie Rechnung tragen.
  • Beide wollen für Stuttgart das Beste.
  • Beide Gruppen möchten der Bevölkerungsmehrheit Vorteile verschaffen.

So weit so gut.

Nun sind heute nach all den Jahren des Für und Wider die Fakten weit besser bekannt, als je zuvor. Leider haben nach meiner Beobachtung die Befürworter von S21die Offenlegung der Fakten (z.B. Kosten und tatsächliche Leistungen) eher verhindert als gefördert. Dies war nicht gut. Den Grund sehe ich darin, dass die Kosten immer höher wurden und die Leistungen immer geringer.
Dadurch wird aber in Frage gestellt, ob die oben angegebenen Ziele mit S21 zu erreichen sind. Gleichzeitig haben sich nämlich viele Bürger und Fachleute kundig gemacht und Alternativen zur Erreichung der oben dargelegten Ziele vorgeschlagen: K21. Leider haben sich aber die Promotoren von S21 diesen Alternativen stets verweigert. Ja, es wurden sogar unqualifizierte Behauptungen gegen die Alternativen K21 ins Feld geführt. So wurde der Stuttgarter Hauptbahnhof als Engpass dargestellt, obwohl er im Bundesgebiet dafür nicht aufgefallen war. Er ist sogar der zweitpünktlichste Großbahnhof in Deutschland, wenn man bei der Bahn heute noch von Pünktlichkeit reden darf. Da heute im Zeitalter der Wendezüge die weiterfahrenden Züge auch im Kopfbahnhof rasch abgefertigt werden können und weil seine hohe Anzahl von Gleisen (16) zeitsparendes Umsteigen (Integraler Taktfahrplan) ermöglicht, war insbesondere die Behauptung von Herrn Drexler, dass der Tiefbahnhof doppelte Leistung bringen würde, absolut unglaubhaft.
Das Vertrauen der Befürworter auf ihre einseitigen Gutachter hat sich heute als gravierender Fehler herausgestellt. Das vom Land BW angeforderte Gutachten der Verkehrsspezialisten SMA Zürich, das lange geheim gehalten wurde, hat nämlich viele Schwächen von der S21-Infrastruktur offen gelegt.

Es wäre daher heute zuallererst dringend geboten, diese fachlichen Unterschiede der Lösungen von S 21 und K 21, und auch von den unterschiedlichen Trassen zu Wendlingen-Ulm in
Fachgesprächen unter Führung von neutralen Fachleuten rasch zu klären. Dies wird aber von den Befürwortern strikt abgelehnt. Dies zeigt , dass die Verantwortlichen von S21 Ihrer behaupteten Leistungen von S21 nicht so sicher sind, wenn sie die Kosten einigermaßen niedrig halten wollen. Weil dies so ist, wollen sie möglichst rasch weitere Fakten schaffen, die das Projekt unumkehrbar machen sollen.

Ebenso ist das bei den Kosten. Diese sind größer, als die S21-Befürworter zugeben. Dies gilt nicht nur für S21 sondern auch für die Schnellbaustrecke Wendlingen –Ulm. Alle diese Ergebnisse könnten aber für die Wahlen mit entscheidend werden. Wenn heute von den S21-Befürwortern verlangt wird, dass S21 kein Verhandlungsthema mehr sein soll, ist damit eigentlich der Gesprächsfaden von vornherein abgeschnitten.

Was sich hier bei dem Projekt Stuttgart 21 offenbart, ist aber ein allgemeiner Krebsschaden in unserer Gesellschaft. Bauprojekte werden mit hochtrabenden Leistungen und Vorteilen dargeboten, die Kosten werden bewusst klein gerechnet und damit durch die Instanzen gelotst. Hernach kommt dann alles anders und der Bürger ist betrogen. Aber es gibt auch Gewinner.

Ich habe mich bei meinen Recherchen deshalb besonders dafür interessiert, ob die beiden Projekte, Stuttgart 21 und Wendlingen –Ulm, überhaupt den
Forderungen des Grundgesetztes genügen. Das Grundgesetz fordert (Anlagen), dass Verkehrsprojekte hinreichen wirtschaftlich sein müssen. Sämtliche Projekte in Deutschland treten dabei in gegenseitige Konkurrenz. In diesem Zusammenhang sind Nutzen-Kosten –Rechnungen als Entscheidungshilfen unabdingbar und vom Bundesrechnungshof gefordert. Es muss mit auf dieser Basis entschieden werden, welche Projekte dem deutschen Gemeinwohl den größten Nutzen bringen. Nur solche Projekte können in den sogenannten „Vordringlichen Bedarf“ aufgenommen werden und nur diese Projekte sind für die Ausführung legitimiert. Wenn somit bei der Abstimmung im Bundestag Projekte durchgewunken werden, für die gar keine soliden Nutzen-Kosten-Untersuchungen vorliegen, ist das ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Weder bei Stuttgart 21 noch bei Wendlingen- Ulm liegen Nutzen-Kosten -Untersuchungen mit aktuellen Grundlagen vor.

Bei meinen Recherchen stellte sich leider auch heraus, dass die Auswahl der Projekte nach Notwendigkeit heute in Deutschland vielfach unterlaufen wird. Der ehemalige Minister Tiefensee hat nämlich den geforderten Nutzen-Kosten-Wert von 3 auf 1 heruntergesetzt und damit eine sinnvolle Priorisierung unmöglich gemacht. So kommt es, dass heute die Verkehrsprojekte
„nach anderen Gesichtspunkten“ zum Zuge kommen. Ich möchte mich hier nicht näher darüber auslassen, nach welchen Gesichtspunkten das ist. Schauen Sie sich bitte den folgenden Bericht des ZDF an:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1145412/Bahn-Milliarden-fuer-unsinnige-Projekte#/beitrag/video/1145412/Bahn-Milliarden-fuer-unsinnige-Projekte

(bitte diesen Link kopieren und im Internet in die Kopfzeile einfügen)

Hat man noch im Januar 2010 von Seiten der Politik und der Bahn behauptet, dass das Projekt Stuttgart 21 nicht „um jeden Preis“ gebaut würde (Bei Kosten höher als 4,5 Milliarden € sollte Schluss sein), so sind heute schon die Herren Mappus, Dr. Grube, Herr Prof. h.c. Hundt und weitere Befürworter davon abgerückt. Der Abgeordnete Conz MdL von der FDP kann es sich sogar leisten, zu sagen „….. und wenn es eine Billion kosten würde“. Das sind aber alles klare Verstöße gegen die Forderungen des Grundgesetzes und ein Krebsschaden für Deutschland, weil das wenige Geld in falsche Kanäle gelenkt wird!.


Ich fühle mich dem Grundgesetz verpflichtet. Ich ließ mich dafür vom Abrisstor am Hauptbahnhof wegtragen und musste es beim passiven Widerstand am 30. Sept. im Schlosspark hinnehmen, dass mir Pfefferspray auf Kopf und Augen gesprüht wurden. Herr Minister Rech bezeichnet uns fälschlicherweise als Aggressoren.


Was macht nun ein Schlichter mit solch einer Anschauung von mir. Oder umgekehrt, was soll ich für Kompromisse bei dieser meiner Anschauung eingehen. Können Schlichter von solchen Leuten erwarten, dass diese von der Verteidigung des Grundgesetzes abrücken? Seit Jahren gibt es keine Auswahl der Bahnprojekte mehr nach sinnvollen Kriterien, die das Grundgesetz verlangt. Das Ergebnis ist die Schädigung des Gemeinwohles. Ohne Vorlage der Nutzen-Kosten-Berechnung der beiden Projekte zur Überprüfung wenigstens beim Bundesverkehrsausschuss und beim Bundesrechnungshof, die bis heute nicht erfolgen konnte, geht es einfach nicht, auch wenn die Politiker diese Tatsache mit Erfolg unter den Teppich kehren.

Es ist allgemein bekannt, dass bei einer Einrichtung Schulden ab einer gewissen Höhe bezogen auf die realen Einnahmen zum Konkurs führen. Bei einem Staat führen solche Schulden global auf jeden Fall zu keiner Steigerung von Arbeitsplätzen noch zur Steigerung des allgemeinen Volkswohles. Dies heißt leider nicht, dass es
keine Gewinner bei diesem Vorgang geben kann. Diese werden deshalb vermutlich diesen Vorgang weiter befördern. Die jüngsten Erfahrungen mit den Banken zeigt dies.

Bei einer Schlichtung bezüglich Stuttgart 21 geht es um nicht weniger als um unsere Demokratie. Das ist das Problem. Schlichter, die meinen, es gehe nur um Heimatgefühl oder nur um Bäume oder um Unbequemlichkeiten für die Bürger oder nur um die eine oder andere technische Lösung, verkennen völlig den Ernst der Lage. Wir sind in einer Zeit angekommen,
in der wir nicht weiterwursteln können wie gehabt. Wer Zahlen bewerten kann, der weiß, dass 1,8 Billionen =1800 Milliarden € Schulden für Deutschland nicht mehr abbaubar sind ohne Erschütterungen.

Wer angesichts solchen Wetterleuchtens noch glaubt, eigennützige Vorstellungen als Argumente für Stuttgart 21 ins Feld führen zu können (Herr Pfarrer Bräuchle: Jetzt soll auch mal Baden–Württemberg anstatt ……….gefördert werden), hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.


Mit freundlichem Gruß