Post an Heinz Dürr, ehem. Chef der DB

Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischer,
18.07.2010

Sehr geehrter Herr Dürr,


Ihren Artikel in der Stuttgarter Zeitung habe ich mit Interesse gelesen. Der Anlass dafür war der Essay von Frau Hannelore Schlaffer. In Ihrem Artikel äußern Sie jedoch nicht nur Ihre Ansichten zu diesem Essay, sondern erfreulicherweise auch zu Ihrer persönlichen Ansichten zum Projekt Stuttgart 21. Zu diesen Ansichten möchte ich hier gerne Stellung nehmen.

Vorausschicken möchte ich den Hinweis, dass sich bei der Beurteilung von Kopfbahnhöfen die Verhältnisse gegenüber der Geburtsstunde der 21er-Projekte dadurch grundlegend geändert haben, dass heute fast ausschließlich sogenannte „Wendezüge“ eingesetzt werden, die eigentlich „Nichtwendezüge“ heißen sollten. „Umständliche Rangiermanöver“, die Sie noch erwähnen, sind somit entfallen. Kopfbahnhöfe sind im praktischen Betrieb der Zugabfertigung heute so schnell wie Durchgangsbahnhöfe. In verkehrlicher Hinsicht sind damit die 21er-Projekte tatsächlich von gestern.

Positiv möchte ich zuerst vermerken, dass ich den Gesamteindruck gewonnen habe, dass Sie in dem Artikel eine Darstellung über Ihr tatsächliches Denken zu diesem Projekt geben. Dies erlebe ich – ein Befürworter der K 21-Lösung – bei Darstellungen von anderen S 21-Befürwortern fast nicht mehr.


Ein Beispiel: Herr Drexler behauptet derzeit bei seinen Vortragsveranstaltungen wider besseres Wissen immer noch, dass der derzeitige Kopfbahnhof nur etwa die halbe Leistung des Durchgangsbahnhofes besitzen würde, obgleich er von Herrn Hopfenzitz, dem ehemaligen Leiter des Bahnhofes schriftlich nachgewiesen bekam, dass dies falsch ist. Die Leistung des bestehenden Kopfbahnhofes ist alleine bei der Zahl der Abfertigung von Zügen pro Tag mindestens gleichwertig, hat aber darüber hinaus infolge der weit höheren Gleiszahl dazu hin Tauglichkeit für einen Integralen Taktfahrplan und damit große Vorteile für den Nahverkehr, da Züge auf Gleisen warten können, was beim geplanten Durchgangsbahnhof nicht der Fall ist. Die SMA-Studie aus Zürich, die im vollen Wortlaut immer noch geheim gehalten wird, bestätigt ebenfalls, dass die 21-Verkehrslösung sehr störanfällig und somit sehr problematisch ist.

Ganz zu Beginn der Planung für S 21, als noch damit geworben wurde, dass es sich dabei um ein Nullsummenspiel handeln sollte und die Fahrzeitverkürzungen diesem Projekt geschuldet wären, hatte auch ich kurz mit S21 sympathisiert, bis dann die Wahrheiten langsam ans Tageslicht kamen, z.B. dass S21 eindeutig die Fahrzeiten nicht verkürzt.

FAZIT 1:Als Verkehrslösung bietet S21 somit nachgewiesenermaßen nur Nachteile. Dies bestätigen die Gutachten SMA-Zürich, Vieregg-Rössler-München, Prof Bodack usw. Dies legt auch den Schluss nahe, dass der Gutachter Prof. Martin, Stuttgart, nur eingeschränkte fachliche Kompetenz besitzt. Es ist aber der DBAG anzulasten, dass sie sich nicht rechtzeitig noch einen unabhängigen Gutachter geholt hat.

Zur Verkehrslösung im weiteren Sinne gehört auch noch der Bahnhof als Gebäude. Es ist eine Tatsache, dass die Mehrheit der Stuttgarter Bevölkerung die „Bequemlichkeit und Ästhetik“ des Stuttgarter Kopfbahnhofes dem Tiefbahnhof weitaus vorzieht. Hierzu einige Hinweise zum Kopfbahnhof:

- Zugang zu allen Gleisen in einer Ebene, der Ebene des Nordausganges!

- Tageslicht auf den Bahnsteigen

- Schöne Ausblicke bei An-und Abfahrt und beim Warten auf Züge.

- Repräsentativer Bonatz-Bahnhof, ein wichtiges Wahrzeichen von Stuttgart.


Dazu möchte ich noch ergänzen, dass ich Ihre Meinung bezüglich des Abrisses der Seitenflügel nicht teile. Als Ingenieur habe ich mich während meiner Zeit an der Universität Dortmund auch dem Thema „Industriekultur“ zugewandt. Etwas überspitzt formuliert, sehe ich keinen Unterschied zwischen dem Bonatzbau und dem Neuen Schloss. Dazu drei Stichworte: „Kulturhauptstadt Ruhrgebiet“ und „Kathedralen der Industrie“ und „Berliner Turbinenfabrik der AEG, Berlin. Nach Ihrer Begründung würde somit der Abriss von Seitenflügeln des Neuen Schlosses auch nicht erheblich sein, denn auch dort sind meines Wissens heute Büros untergebracht.

FAZIT2: Ein neuer Tiefbahnhof bringt den Fahrgästen nur Nachteile.

FAZIT 3: Die Verstümmelung der Architekturikone Bonatzbahnhof schädigt das Ansehen und das Stadtbild der Stadt Stuttgart.
Die Kosten für Stuttgart 21 sind ständig gewachsen. Dafür ist nicht alleine die lange Laufzeit der Planung verantwortlich. Die Verantwortlichen haben bis heute die Wahrheit unterdrückt. Es geht dabei also nicht nur um ein Kommunikationsproblem, wie Sie meinen, sondern um das Problem der Ehrlichkeit. Das Grundgesetz fordert bei Verkehrsprojekten Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen auf der Basis von realistischen Zahlen sowohl auf der Seite der Verkehrsaufkommen als auch der Seite der Baukosten. Dies ist natürlich keine leere gesetzliche Forderung. Es geht um den Bestand des Gemeinwesens. An die Geldausgaben des Staates sind vergleichende Maßstäbe zum Wohle des Volkes anzulegen. Hier liegt, wie wir heute feststellen, ein verdrängtes Problem auch in Deutschland. Bis heute gibt es bei den Befürwortern von S21 nur geschönte Zahlen. Wir wissen aber schon seit 2008 vom Bundesrechnungshof, dass S21 nicht unter 5,3 Milliarden Euro zu haben ist. Vermutet werden noch weit höhere Kosten.

FAZIT4: Das Projekt Stuttgart 21 ist noch viel teurer als zugegeben und unter Berücksichtigung von Fazit 1 und 2 völlig verkehrstechnisch untauglich geschweige denn wirtschaftlich!

FAZIT 5: Aus Fazit 1 bis 4 muss geschlossen werden, dass S21 keine demokratische Legitimation mehr besitzt. Die Abstimmungen in Gremien haben sich als unerfüllbares Wunschdenken herausgestellt.

Nun haben Sie Herr Dürr beim Projekt Stuttgart 21 noch einige Vorteile für die Stadt Stuttgart gesehen. Dazu möchte ich hier meine Einstellungen äußern. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass mancher scheinbare Vorteil gleichzeitig Nachteile mit sich bringt.

"Gewinn von Flächen": Der tatsächliche Gewinn beträgt wohl 20 ha, die anderen Flächen sind schon frei. Da zudem bei der Beibehaltung des Kopfbahnhofes ebenfalls noch Gleisflächen entfallen können, sind es nicht alle Gleisflächen die im Bild zu Ihrem Artikel sichtbar sind, die nur durch S21 frei werden.


Wie ich aus Ihren Zeilen lesen kann, sind Sie sich auch nicht sicher, was für Bauten da wohl entstehen werden. Anders als in München, wo die Stadt schon frühzeitig in Zusammenarbeit mit den Bürgern ihre Vorstellungen bezüglich der Umgestaltung von bahnhofsnahen Zonen detailliert erarbeitet hatte (die ehemalige Baubürgermeisterin Thalgott) hat dazu unlängst in Stuttgart eindrucksvoll referiert), ist dies in Stuttgart nicht geschehen. In München gibt es klare Anweisungen was gebaut und was nicht gebaut werden soll, ja sogar was Wohnungsmieten an bestimmten Plätzen kosten dürfen, um tote Zonen zu verhindern. Das Nein zu München 21 kam nicht, wegen zu großem Untertunnelungsaufwand. Die Option wurde sogar in die dann gewählte Lösung eingearbeitet. Frau Thalgott gab für Stuttgart den Rat, „Vor und Nachteile genau analysieren. Nicht nur auf Argumente der Bahn hören“ und den Hinweis: „Warum sollten wir (in München) einen Durchgangsbahnhof bauen, der nur eine Zeitersparnis von knapp drei Minuten erbringt.


In Stuttgart ist zu befürchten, dass es beim Bebauen der freien Flächen so weitergeht, wie begonnen wurde: Zufall und Beziehungen spielen hier teilweise eine Hauptrolle. Bei Stuttgart 21 setzt aber der Gewinn von Flächen erst einmal geplanten „Vandalismus“ voraus. 280 teils große Bäume, die den stimmungsvollen Park prägen, sollen der Säge zum Opfer fallen. Diesen Punkt haben Sie nicht erwähnt und auch weitere Nachteile nicht angesprochen: Gefahr für die Mineralquellen, Gefahr für das örtliche Klima, das in Bahnhofsnähe besonders kritisch ist, und die Luftreinheit (Stichwort Feinstaub). Verhinderung der bislang noch gegebenen, schönen Sicht von der einen Talseite zur anderen z.B. bei der oberirdischen Einfahrt- und Ausfahrt nach Stuttgart nicht nur vom Zug aus sondern auch von der Heilbronner Strasse. Stuttgart zeichnet die besondere Lage im Nesenbachtal aus.



Der alte Slogan hieß einmal: „Stuttgart zwischen Wald und Reben“. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass in Stuttgart die Verelendung der Innenstadt droht, so lange die Bewohner sich dieser Lage bewusst sind. Dieses Bewusstsein auch durch den Augenkontakt zu Wald und Reben, zu Tal und Höhe zu erhalten, müsste auch ein Element sein, das bei der Stadtgestaltung berücksichtigt wird. Davon habe ich bislang wenig gespürt. Die behauptete Rückwärtsgewandtheit der Stuttgarter ist nicht zutreffend. Dies zeigte deutlich die Diskussion über eine ähnliche Behauptung, die von Prof. Ortwin Renn unter dem Stichwort „Heimatgefühl“ eingebracht worden war. Was die Bürger als lebenswerter ansehen, sollte man ihnen nicht verordnen.


FAZIT6: Es wäre demokratisch (gewesen), wenn man die Stuttgarter selbst über Stuttgart 21 hätte entscheiden lassen. Sie hätten in ihrem Votum eingebracht, wie sie den Gewinn und den Verlust durch Stuttgart 21 werten.

"Hässliche Wunde": Damit komme ich zu einem weiteren Punkt. Sie schreiben immer wieder in Ihrem Artikel davon, dass die Gleisanlagen eine hässliche Wunde wäre. Auch greifen Sie ein bereits mehrfach von mir gebrandmarktes Wort in gemilderter Form auf, nämlich „wild durcheinander gehende Gleise“. Sie sind mit Ihrer Aussage nicht alleine. Herr Dr. phil. Grube sprach von einem „Schandfleck“, Herr Dr. Schuster von Gleisgewurstel, Herr Oettinger von Hüttenkruscht und Herr Prof. Kussmaul von Schrotthaufen. Tatsache ist, dass es sich bei der Gleisanlage des Stuttgarter Hauptbahnhofes um eine sehr gut geplante und weiterentwickelte funktionierende Gleisanlage handelt, die sich der Natur der Sache nach in Rostfärbung präsentiert. Dies würde auch bei der Gleisanlage im Tiefbahnhof so sein. Ich kann allen diesen Menschen, die solche Aussagen machen, nur empfehlen, machen Sie einmal die Motorhaube Ihres Autos auf und schauen hinein oder schauen Sie mal ein Saxophon genau an. Sehen Sie dort etwa auch Gewurstel? Alle hier genannten Personen – es tut mir leid das sagen zu müssen - outen sich als „Kulturbanausen“. Wenn ich eine technische Einrichtung nicht sogleich durchschaue, sollte ich vorsichtig mit Aussagen sein, die sich als Bumerang erweisen können. Bei Herrn Dr. phil. Grube war ich über diese Aussage besonders entsetzt, weil er der oberste Chef der Bahn ist und damit das Werk der Bahn verächtlich macht. Natürlich kann sich jeder blamieren wie er will. Die ästhetische Bewertung von technischen Produkten bezieht mehr ein als den Schein.


FAZIT7: Es gilt Schein und Sein zu beachten und zu unterscheiden. Dazu befähigt den Menschen sein Gehirn.

"Stuttgart 21 weist den Weg in die Moderne": Sehr geehrter Herr Dürr, nach dem, was sich seit Ihrem Weggang von der Bahn bei S21 alles herausgestellt hat, hat sich diese Äußerung für mich in einen „Witz“ verkehrt: Das „Allermodernste“ wäre dann wohl, wenn man für viel Geld gar nichts mehr bekommt. Genau das gilt es aber in der Zukunft dringendst zu vermeiden.

Das Neue Denken bezieht die Tatsache mit ein, dass es Grenzen gibt. Unlängst hat das Shuttle zur Raumstation einen seiner letzten Flüge gemacht. Der Reporter wurde gefragt, ob das gesamte Weltraumunternehmen erfolgreich war. Ja und nein war seine Antwort. Das Ja war berechtigt, weil viele Erkenntnisse gesammelt werden konnten. Das Nein wurde mit folgendem Hinweis begründet: „Als wir mit den Flügen begannen, glaubten wir noch, die Kosten des Weltraumtransportes für 1 Kg Last heute für 200 $ durchführen zu können. Wissen Sie, was es aber tatsächlich noch kostet? Seine eigene Antwort war: 16 000 $. Jetzt wissen Sie warum wir mit den Flügen aufhören müssen.“ Wir Gegner von Stuttgart 21 wollen überwiegend die Zukunft gestalten. Mit der BP-Methode im Golf von Mexiko geht das nicht und mit der S 21-Methode auch nicht.


FAZIT8: Es ist offensichtlich schwer zu erkennen, was modern ist, wobei hier das Wort modern besser durch „die gute Zukunft für alle Menschen“ ausgedrückt würde.

"Projekt von Bahn?" Darüber, wessen Projekt das Projekt Stuttgart 21 ist, wird trefflich gestritten. Wenn die Bürger darüber abstimmen wollen, dann ist es nach Oberbürgermeister Dr. Schuster ein Projekt der Bahn. Wenn es ans Bezahlen geht, dann ist es nach dem Bundesrechnungshof ein Projekt des Bundes. Wenn eine Wirtschaftlichkeitsberechnung vorgelegt werden soll, dann behauptet die BahnAG es ist ihr Projekt. Es kann dadurch nach Meinung der Bahn einfach der Wirtschaftlichkeitskontrolle des Verkehrsausschusses entzogen werden, weil nunmehr das Projekt als eigenwirtschaftliches Projekt bezeichnet wird. Mit diesen Tricks wird hier gearbeitet. Ich habe mich darüber gefreut, wie Sie Herr Dürr diese Sache, wessen Projekt es ist, beurteilen.



Für mich ist sicher, dass der Steuerzahler am Ende die ganze Zeche zu bezahlen hätte. Nachdem nun die Kosten total aus dem Ruder laufen, ein verkehrlicher Nutzen nicht in Sicht ist und die überwiegende Mehrheit der Stuttgarter Bürger die städtebaulichen Vorgaben unter Gewinn –und Verlustbetrachtungen negativ einstufen, ist es allerhöchste Zeit, moderne, zukunftsweisende Beschlüsse zu fassen.


FAZIT9: Das verkehrstechnisch und wirtschaftlich unsinnige Projekt ist sofort zu beenden.


Sehr geehrter Herr Dürr seit Ihrer Amtszeit bei der Bahn haben sich die Dinge bei Stuttgart 21 grundlegend verändert. Mangelnde Ehrlichkeit in der Sache hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Tatsachen nur scheibchenweise ans Licht kommen. Das Problem ist hierbei der Mensch. Unehrlichkeit, Eigennutz, Beharren auf widerlegten Standpunkten, Kumpanei, Machtmissbrauch usw. sind das eigentliche Problem unserer Gesellschaft.


Mit freundlichem Gruß Manfred Fischer